Drohnenbilder von der nördlichen Egge, 2023 – Lukas Jürgenschellert
Von Martina Vogt
→ In 16 Nationalparks – auf einer Gesamtfläche von gut einer Million Hektar – können wir in Deutschland unberührte Natur genießen. Ein so bevölkerungsreiches und großes Bundesland wie Nordrhein-Westfalen kann bisher nur mit einem einzigen ausgewiesenen Nationalpark aufwarten, dem Nationalpark Eifel. Genau das will das Aktionsbündnis „Ja! zu unserem Nationalpark Egge“ ändern. Die Kreise Höxter, Lippe und Paderborn sammelten dafür bereits über 20.000 Unterschriften, deutlich mehr als für das Einreichen der beiden Bürgerbegehren erforderlich war.
Im Gespräch mit Bestseller-Autor und Diplom-Forstingenieur Peter Wohlleben / Das Interview führte Martina Vogt für den NABU Paderborn
Vogt: Schön, dass Sie sich Zeit für unser Vorhaben, der Ausweisung eines zweiten Nationalparks in NRW, nehmen, Herr Wohlleben. Ich bin neugierig… Waren Sie heute Morgen eigentlich schon im Wald?
Wohlleben: (lacht) Ja, natürlich. Mein Forsthaus steht ja mitten im Wald (oberhalb vom Ahrtal) und wenn ich einen Fuß vor die Tür setze, bin ich direkt im Wald.
Vogt: Sie Glücklicher! Naherholung direkt vor Ihrer Nase. Das wollen wir in Ostwestfalen auch. Unser Anliegen ist ein zweiter Nationalpark für NRW, in der Egge. Sie sind ebenfalls für einen Nationalpark in der Egge und ich würde gern wissen, warum?
Wohlleben: Also erst einmal ist es grundsätzlich schön, dass Nordrhein-Westfalen einen zweiten Nationalpark will. Davon können sich einige Bundesländer eine Scheibe abschneiden, zumal NRW trotzdem einen recht geringen Waldanteil hat und viel Bevölkerung. Die meisten Menschen vergessen, dass Nationalpark, also „Park“, nicht gleich „Ausschluss von Menschen“ bedeutet – sogar ganz im Gegenteil! Das Erholungsbedürfnis (Einwohner pro Quadratkilometer) ist in NRW besonders hoch. Allein von dieser Warte betrachtet, ist ein zweiter Nationalpark dringend geboten. Ich persönlich schaue natürlich auch aus der Naturschutz-Perspektive auf den Nationalpark. Die Politik hat auch ein internationales Ziel vereinbart: innerhalb von 6 Jahren 10% der bundesdeutschen Fläche unter Prozessschutz zu stellen. Beim Nationalpark sind nur 75% der Fläche gefordert, unter Prozessschutz zu stellen, aber wir haben ein 10 %-iges Ziel für Deutschland insgesamt unterzeichnet. Wir, damit meine ich Steffi Lemke (Die Grünen) im Zusammenhang mit dem Montreal-Abkommen von Dezember 2022.
Aktuell gibt es nur 0,6% Wildnisgebiete in Deutschland, das heißt, wir müssen es fast verzwanzigfachen. Im internationalen Vergleich ist Deutschland auf dem drittletzten Platz in der EU, was Schutzgebiete anbelangt. Wir haben also dringend Nachhol- und Aufholbedarf!
Im Egge-Gebiet haben wir einen großen Teil schöner Laubwälder und eine sehr facettenreiche Natur, also ein sehr gut geeignetes Gebiet – und dabei handelt es sich ausschließlich um Staatswaldanteile. Lange Rede, kurzer Sinn: Ein zweiter Nationalpark in NRW ist das Beste, was wir momentan umsetzen können, und wir sollten das sofort tun!
Vogt: Ich frage mich, weshalb gibt es so viel Aufregung rund um das Thema Nationalpark Egge?
Wohlleben: Wo die Aufregung herkommt, ist klar. Wir sehen das bei allen Nationalparks in Deutschland, dass Interessengruppen aus dem Hintergrund die Aufregung schüren. Es ist gar nicht „die Bevölkerung“ und auch nicht „die ortsansässige Bevölkerung“, vielmehr sind es Holznutzungsgruppen, die oft grade auf dem Land, obwohl es eine Minderheit ist, den Ton angeben. Das haben wir überall, auch hier beim Nationalpark Egge, dass diese kleine Gruppe Forst-Holz-Jagd die Diskussion bestimmt und gezielt schürt.
Fakt ist: Den Menschen wird durch das Ausweisen eines Nationalparks nichts weggenommen. Die Gegnerinnen und Gegner haben völlig verkannt, dass es in Zukunft gar nicht um Holz geht. Es geht um unsere Zukunft und schlicht und ergreifend ums Überleben. Intakte Wälder kühlen die Landschaft, sorgen für die Wasserkreisläufe und -neubildung. Sobald der Herbstregen einsetzt, vergessen wir das häufig. Und dann kommt immer nur noch eins: „Wir wollen Brennholz, Bauholz, brauchen, brauchen, brauchen.“ Aber das Wichtigste, was wir brauchen, ist Wasser. Wälder sorgen für gutes Wasser in der Landschaft. Und es ist beschämend, wenn wir nun in diese ethisch-moralische Schiene kommen, wie wenig wir insgesamt als Gesellschaft anderen Lebewesen übriglassen und vergessen, dass das unser Ökosystem ist, ohne das wir hier alle nicht überleben können.
Wenn wir dafür einen so kleinen Teil reservieren wollen und selbst dann noch einige Gegner laut werden … Dieses Verhalten ist letztendlich schädlich für die Allgemeinheit, das muss man einmal ganz klar sagen. Selbst wenn wir unsere internationalen Ziele einhalten, bedeutet das, dass wir den größten Teil der Fläche weiter bewirtschaften. Es geht nur darum, einen klitzekleinen Teil der Fläche endlich anderen Lebewesen zu überlassen – und wir Menschen können dieses Areal trotzdem weiter nutzen …
Vogt: Wir reden ja immer noch von Staatswaldflächen im geplanten Nationalpark-Gebiet Egge. Was genau gilt in einem öffentlichen Wald?
Wohlleben: Nun, das Bundesverfassungsgericht hat schon mehrmals darauf hingewiesen, dass bei einem öffentlichen Wald – und hier handelt es sich um Staatswald – die Holzerzeugung gar nicht im Vordergrund stehen darf. Das gilt generell für den gesamten Staatswald. Schutz und Erholung haben Vorrang und hier könnte man jetzt endlich genau diesen Schritt machen. Auf den Gesamtstaatswald bezogen ist das immer noch keine riesige Fläche. Wenn wir den Gesamtwald, den öffentlichen Wald, die Kommunen miteinbeziehen, auch dann sind wir noch weit von dem entfernt, was das Bundesverfassungsgericht fordert. Auch aus dieser Warte betrachtet, ist es dringend geboten, einen zweiten Nationalpark auszuweisen.
Vogt: Per Definition ist ein Nationalpark ein Schutzgebiet, etwas Schutzwürdiges und Schutzbedürftiges. Es ist kein Gebiet, wo wirtschaftlich gearbeitet werden sollte. Sie plädieren ja dafür, das Ökosystem Wald so naturnah wie möglich zu belassen und, wenn überhaupt, nur einzelne Bäume zu entnehmen.
Wohlleben: Genau. Und es ist übrigens eine Erzählung der Forstwirtschaft, dass in Schutzgebieten nicht gewirtschaftet wird. Dabei geht es eigentlich nur um das Ende der Holznutzung, also der Rohstoffgewinnung. Alles andere bleibt in einem Nationalpark erlaubt. Das heißt, der Nationalpark darf die Landschaft kühlen, darf für Grundwasser und für Erholung sorgen. Womit wir direkt im wirtschaftlichen Bereich angekommen sind, also das, was sich monetär auswirkt: die Erholungs- und Tourismusindustrie, die blühen auf. Ein Nationalpark schafft Arbeitsplätze. In Euros ausgedrückt ist das ein Hochleistungsbetrieb, der daraus wird. Betrachten wir mal reine Forstbetriebe. Davon wären die allermeisten ohne Subventionen gar nicht wirtschaftlich. Beim Nationalpark – wenn diese Fläche erst einmal ohne finanzielle Gegenleistung eingespeist wird – unterscheidet sich es in dem Sinne gar nicht, aber er wirft anschließend wirklich Geld ab, während das viele Forstbetriebe nicht mehr tun.
Vogt: Wie machen es denn andere Nationalparks? Was können wir von ihnen womöglich lernen?
Wohlleben: Nun, generell gesprochen: In einem Nationalpark ist das Ziel nicht Naturverjüngung, sondern natürliche Prozesse entstehen zu lassen. Von allein. Das heißt auch kein Holzeinschlag. Die Wälder dürfen wieder dunkler werden, umgestürzte Bäume bleiben liegen, bilden Hindernisse für Rehe, die da nicht reingehen. Ich habe mir das gerade im Nationalpark Unteres Odertal angeschaut: Dort wird auf Teilflächen nicht gejagt und da funktioniert das wunderbar – von ganz allein. Meines Erachtens nach kann es nicht das Ziel eines Nationalparks sein, dauerhaft Säugetiere zu schießen, die dann auch ganz nebenbei nicht mehr beobachtbar sind, weil sie einfach Angst haben.
Vogt: Und die Frage stellt sich erneut. Es ist ein ausgewiesenes Schutzgebiet. Nur was wird geschützt? Haben Sie ein Beispiel, wo Sie sagen, das ist ein Nationalpark, da wird es gut gemacht, da wird es richtig gemacht?
Wohlleben: Das weiß ich im Detail nicht, die Jagdstrategie wechselt auch bei den einzelnen Nationalparks. Beim Nationalpark Unteres Odertal ist es ganz gut gelöst worden. Da lässt man die Plantagen, die teilweise auch bestehen, zusammenbrechen. Das find’ ich super. Das ist aber nicht gut auszuhalten für die Menschen vor Ort, denn die Bevölkerung sagt dann: das ganze Holz … Das sind die Dinge, die kommen. Aber dort funktioniert es ganz gut, glaube ich. Ansonsten ist es in den allermeisten Nationalparks leider der Fall, dass dort geschossen wird. Wenn man das international vergleicht, dann muss man sagen, das geht nicht.
Holzeinschlag, Tiere schießen … Worin unterscheidet sich dann der Nationalpark vom Wirtschaftswald? Es gibt dann ein paar Kernzonen, die sind relativ klein, aber wodurch kommt das ganze? Das kommt, weil man das alte Personal weiter in der Fläche hält, nämlich die Förster, die sagen, wir wissen viel besser als die Natur, wo es langgeht. Viele bestimmen lieber den Prozess selbst. Das ist nicht Sinn eines Nationalparks. Der Sinn eines Nationalparks ist, wir sind mal etwas bescheidener und überlassen wenigstens auf diesen wenigen Promille der Fläche – um mehr geht’s ja nicht – den Prozess sich selbst. Und dort, wo man das macht, ist es sehr schön. Aber es entspricht nicht mehr dem, was Forstwirtschaft sich von solch einer Fläche erhofft. Überall dichte Naturverjüngung, die und die Baumarten, die und die Holzqualität und da muss man sagen, stopp, das ist ein Nationalpark, da geht’s nicht um Holz!
Vogt: Und was machen wir mit den riesigen Kahlschlägen? Braucht es da nicht die Hilfe durch den Mensch?
Wohlleben: Überall dort, wo man die toten Fichten stehenlässt, kommt Wald von allein zurück. Überall dort, wo man abräumt, haben wir genau diese Probleme, die diese Leute beschreiben. Ich erkläre es gern am Beispiel Nationalpark Unteres Odertal: Egal, wo man hinschaut, es funktioniert von selbst! Außer man macht Kahlschläge, dann entfernt man die gesamte Biomasse, dann bricht der Wald erst zusammen. Pilze, Bakterien usw. haben dann nichts mehr zu fressen und sterben. Dann fahren dort Maschinen hinein, verdichten mit ihrem Gewicht die Böden, die dann kaum noch Wasser speichern und dann trocknen die Wälder im Sommer ziemlich schnell aus.
Wenn ich sie kahlschlage, dann misst man in der prallen Sonne Bodentemperaturen von teilweise deutlich über 60 Grad – da kommt der neue Wald erst recht nicht hoch. Die Flächen vergrasen und mit der Medizin, mit der man Patient:innen heilen will, bringt man selbige:n um. In dieses Gras hinein einen Wald zu entwickeln, kann problematisch werden, weil man die gesamte Fläche für Pflanzenfresser zugänglich macht – ein offenes Paradies für Rehe und Hirsche. Überall dort, wo man die Prozesse laufen lässt, funktioniert es dagegen sehr gut. Je stärker man eingreift, desto schlechter wird die Ausgangssituation. Und dann fängt man aufwendig an zu pflanzen, weil es einfach nicht mehr klappt. Der Gedanke, dass man das selbst verursacht hat, dieser Gedanke entsteht häufig nicht in den Köpfen.
Vogt: Würden Sie sagen, dass es dann einfach auch Flächen gibt, die komplett kaputt sind?
Wohlleben: Jemand, der die Flächen kaputtgemacht hat, ist gesetzlich dazu verpflichtet, dort wieder Wald entstehen zu lassen. Aber ich würde die Leute daran hindern, den kaputtzumachen. Das ist in etwa so, als würden wir über einen Totalschaden am Auto diskutieren. Ich würde lieber darüber reden, wie wir einen Totalschaden vermeiden können. Häufig gehen wir vom Worst-Case-Szenario aus – und das ist nicht der Borkenkäfer. Das ist Nadelholzanbau in Plantagen, die übrigens seit über 200 Jahren hier immer wieder eingehen, das ist nichts neues. Jetzt geht’s nur schneller. Der Klimawandel stresst das Ökosystem derart, dass nun gnadenlos alle von Menschenhand gemachten Fehler und viele Schwachstellen aufgedeckt werden. Intakte Ökosysteme sind natürlich viel resistenter als manipulierte.
Vogt: Ich frage mich, wie geht es besser und nachhaltiger?
Wohlleben: Besser geht’s von allein! Ich kenne kein einziges Beispiel, wo ein gepflanzter Wald besser ist als das Original. Das gibt es offenbar nicht. Der Beweis ist bis heute nicht erbracht worden, dass ein gepflanzter Wald stabiler und artenreicher ist oder bessere Holzerträge liefert. Und wenn das nicht beweisbar ist, was man mit hohem Input versucht, dann führt das zu einer Veränderung der gesamten natürlichen Abläufe. Dann sollte man es einfach sein lassen. Außerdem: Wir verlassen uns allzu gern auf die Aussagen der Forstverwaltung. Und dann kommt immer wieder die gleiche Frage: Wo soll das Holz herkommen? A: Ist das gar nicht die Frage, es geht erst mal nur um Resilienz und B: Resiliente Wälder können sicher mehr Holz liefern als sterbende Wälder. Es ist kein Argument zu sagen, wir müssen so viel einschlagen, weil wir das Holz brauchen und dabei das Pferd „Wald“ zu Tode reiten. Dann kommt in Zukunft noch weniger Holz auf den Markt. Das ist ein Argument, das nicht zieht, aber es wird dennoch häufig verwendet.
Vogt: Vielen Dank, dass Sie Ihre Zeit und Ihre Erfahrung mit uns teilen,
Herr Wohlleben.
Wohlleben: Sehr gern. Viel Erfolg wünsche ich Ihnen für Ihr Vorhaben hinsichtlich der Ausweisung eines 17. Nationalparks für Deutschland.
Peter Wohlleben setzt sich für eine ökologische wie ökonomische nachhaltige Waldwirtschaft ein. Auf weltweites Interesse stieß sein 2015 veröffentlichtes Buch „Das geheime Leben der Bäume“. In den 1990er Jahren trieb die Landesforstverwaltung Rheinland-Pfalz eine ökologische Waldentwicklung voran, was den Verzicht auf Kahlschläge, Monokulturen und andere Methoden bedeutete. Im Zuge dessen begann Wohlleben, den Gemeindewald Hümmel in einen Urwald zu verwandeln. Sein aktuelles Buch trägt den Titel
„Unser wildes Erbe“, erschienen im Oktober 2023.