Wanderung durch Teile des geplanten Nationalparks Egge. Foto: M. Vogt
Ein Beitrag von Martina Vogt
Kreis Paderborn: Sie sind Europas ursprüngliche Wildnis: Buchenwälder. Einst wuchsen sie überall, heute zählen sie zu den bedrohten Lebensräumen. Am letzten Sonntag im Juni, am Tag der Buchenwälder, rief der NABU Paderborn mit ihrem Vorsitzenden Otmar Lüke und Mitglied Dirk Tornede zu einer dreistündigen Wanderung durch Teilgebiete des geplanten Nationalparks Egge auf, dem 24 Naturinteressierte folgten. Dirk Tornede führte uns durch die nördliche Egge mit ihren gut bestückten Buchenwäldern. „Einige Urwälder in den Karpaten zählen zum UNESCO-Weltnaturerbe Buchenwälder“, erzählt er uns. „Und fünf ebenfalls sehr naturnahe Buchenwälder im Nordosten und in der Mitte Deutschlands zählen seit 2011 dazu: die Nationalparke Hainich, Kellerwald, Jasmund, Serahn als Teil vom Müritz-Nationalpark und der Wald Grumsin im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin.“
Bekannt ist, dass das Land NRW bis 2027 einen zweiten Nationalpark einrichten will. Die Rede ist von einem Nationalpark im Gebiet Egge. Eine gute Nachricht, möchte man meinen. Schließlich stellen Teile von Egge, Senne und angrenzendem Teutoburger Wald eine der 30 Hotspots der Biodiversität in Deutschland dar. Ein Nationalpark bedeutet mehr Schutz für bedrohte Tier- und Pflanzenarten und Schutz für die Artenvielfalt.
Doch es gibt einige, denen der Gedanke an die Einrichtung eines Nationalparks bitter aufstößt. Warum aber und wer ist das, frage ich einen Mitwanderer neben mir: „Es sind Lobbygruppen der holzverarbeitenden Betriebe. Sie nehmen fälschlicherweise an, dass das Holz knapp werden könnte. Tatsächlich haben wir aktuell zu viel Totholz und im Grunde sind das wenige Prozent vom ganzen Komplex Egge/Teuto, die aus der Nutzung genommen werden – unter fünf Prozent. Holz ist das primäre Interesse. Und die Info, dass die Landwirte sich einschränken müssten, stimmt gar nicht“, bestätigt Roland Sossinka, Mitglied im Förderverein Nationalpark Egge. Der Nationalpark würde im Übrigen nur auf Staatswaldflächen entstehen. Privatwaldbesitzer:innen müssen also nicht befürchten überplant zu werden, so Sossinka.
Seit 30 Jahren setzt sich der Verein Nationalpark Senne-Eggegebirge für die Einrichtung eines Nationalparks in Ostwestfalen ein. Mit ihm kämpfen NABU, LNU, BUND und viele andere Organisationen und Naturschützer:innen für das aus ihrer Sicht logische und nachhaltige Ziel. Aktuell nimmt die Debatte um die Einrichtung eines Parks wieder Fahrt auf. Da die Briten die Senne weiter militärisch nutzen dürfen, fokussieren sich die Pläne für einen Nationalpark nun ganz auf die Egge.
Dass der geplante Nationalpark aber so umstritten ist, wundert Dirk Tornede nicht unbedingt. „Das ist bei jedem Nationalpark so gewesen, es wurde oft sehr heiß diskutiert. Anscheinend haben manche Menschen Angst vor Wildnis, vor Teilgebieten, in die der Mensch nicht eingreifen kann. Manche haben den Ansatz, es wäre eine Schande, Holz vergammeln zu lassen, das müsse man doch nutzen.“ Warum ist der Mensch nicht bereit, einen kleinen Teil unserer Natur nicht nutzen zu wollen? Selbst davon hätte er ja einen Nutzen, denn so wird Biodiversität, also Artenvielfalt, gefördert. „Wir sind abhängig von einer intakten Natur und Umwelt. Die Vorteile eines Nationalparks liegen deutlich und klar auf der Hand“, schließt Dirk und ich hake nach. Welche Vorteile gibt es noch? „Ein Nationalpark ist immer pro Artenschutz; wir schützen die einzigartigen Lebensräume der Egge und würden dazu beitragen, die Ökodiversität, was ja die Hauptaufgabe des Naturschutzes ist, zu verbessern.“ Zudem sei das Eggegebirge am besten geeignet für die Entstehung neuer Wildnis. Und eben diese Wildnis, wovon viele bedrohte Tier- und Pflanzenarten profitieren würden, kann nur mit der Einrichtung eines Nationalparks entstehen.
„Je vielfältiger unsere Welt ist, desto stärker ist sie“, S. Nitsche, Greenpeace
Auch wirtschaftliche und ökonomische Vorteile liegen für den Naturschützer auf der Hand. „Durch den Naturtourismus können Arbeitsplätze in unserer Region geschaffen werden. Zum Vergleich: Kurz nach Eröffnung des Naturparks Eifel gab es rund 270 neue Arbeitsplätze.“ Neben rein wirtschaftlichen Zielen müssen bei der Einrichtung eines Nationalparks auch volkswirtschaftliche Aspekte miteinbezogen werden, zum Beispiel Profite für Gastronomie, Handel, Beherbergungsbetriebe und Transportwesen. „Mit einem Nationalpark schaffen wir hier ein intaktes Ökosystem, handeln im Sinne des Klima- und Grundwasserschutzes und fördern und stärken den Erhalt der Biodiversität, mal abgesehen von der positiven Wirkung auf gesellschaftlich-soziale und kulturelle Werte, die sich daraus ergeben.“
Wir wandern weiter und sehen nach einiger Zeit einen Waldbereich vor uns, der nicht mehr genutzt wird. „Der ganze erste Teil, durch den wir gegangen sind, war noch bewirtschafteter Teil. Und hier in der nördlichen Egge haben wir ein großes kompaktes Laubwaldgebiet mit circa 2.000 Hektar“, fährt Dirk fort. Bisher wurde hier nur ein kleiner Teil des eigentlich versprochenen und festgesetzten Gebiets aus der Nutzung genommen: 600 Hektar – teilweise schmale Stücke und nicht zusammenhängend – sogenannte Wildnis-Entwicklungsflächen. Für Dirk ist das „Etikettenschwindel, was das Land NRW da betreibt: „Es gibt Qualitätskriterien für Wildnisgebiete, das sollen Gebiete sein von mindestens 1.000 Hektar und in einer möglichst kompakten zusammenhängenden Form. Umsetzbar wäre das hier.“ Was bisher getan wurde, ist nach Ansicht der Paderborner Naturschützer:innen nur ein Anfang, da müsse deutlich mehr kommen.
Die Große Koalition aus CDU und SPD hat in 2007 die Nationale Biodiversitätsstrategie (NBS) beschlossen. Bis 2020 sollte der Artenverlust gestoppt werden. Genau wie beim Klimaschutz wurden auch bei der NBS die gesteckten Ziele nicht erreicht. Eins davon ist es, zwei Prozent der Landfläche beziehungsweise fünf Prozent der Waldfläche aus der Nutzung zu nehmen, also neue Wildnis zuzulassen. Dieses Ziel hat weder NRW noch Deutschland erreicht. Es bestehe Handlungsbedarf, weitere Waldflächen NRWs aus der Nutzung zu nehmen, äußern die Naturschutzverbände NABU Paderborn und Gütersloh.
Warum überhaupt Wälder aus der Nutzung nehmen?
„Schauen wir uns den Buchenwald als Wirtschaftswald an. Für den Förster ist es natürlich wirtschaftlich, das Holz zu ernten, wenn der Baum grade seine Jugendphase hinter sich hat“, erklärt uns Dirk. „Dann ist es wirtschaftlich gesehen interessant den Baum wegzunehmen, damit dort neue Bäume nachwachsen. Ein Baum wird natürlicherweise viel älter. Eine Buche kann 350 bis 400 Jahre alt werden. In dieser Altersphase, wo der Baum langsam abstirbt, kränklich wird, wo Äste abbrechen und Höhlen entstehen, in dieser Phase wird es erst interessant für die Artenvielfalt. Denn viele seltene Arten sind auf die alten, absterbenden Bäume angewiesen. Circa 3/4 dieses Zyklus findet jedoch in einem Wirtschaftswald gar nicht statt. Wir haben einen Mangel an alten, toten, morschen Bäumen – stehendes, liegendes Totholz fehlt größtenteils im Wald.“ Darum ist es so wichtig, bestimmte Waldgebiete aus der Nutzung zu nehmen und die Natur einfach mal machen zu lassen.
Viele umgefallene Bäume haben wir während unserer Wanderung durch die Egge rechts und links des Weges gesehen. „Das waren überwiegend Eschen“, fährt Dirk fort. „Es gibt einen Pilz, den wir eingeschleppt haben, der die Eschen befällt, durch den sie dann in einen Kümmerwuchs kommen. Die Eschen überleben so ein paar Jahre, dann sterben sie langsam und fallen relativ schnell um. Das ist das Eschentriebsterben.“ An sich war die Esche immer eine sehr robuste Baumart; nun fällt auch sie als Wirtschaftsbaum aus. „Wenn man dieses Totholz liegenlässt, ist es vielleicht sogar gut. Dadurch wird der Waldboden mit Humus angereichert und in den Lücken können neue Bäume hochkommen. Sie sehen, wie wenig Mutterboden sich über den Kalksteinen befindet – es sind keine optimalen Standorte. Und dennoch wachsen über dem wenigen Mutterboden Bäume“, berichtet NABU-Experte Dirk Tornede.
Das schnelle Aufgeben der Eschen sei kurzsichtig, erwidert Adalbert Niemeyer-Lüllwitz vom BUND NRW. „Es gibt jetzt schon erste Nachweise über Resistenzen. Man findet manchmal ganz überraschend gesunde Bestände oder Einzelbäume. Warten wir mal ab was in hundert Jahren passiert. Der Pilz ist grade mal 10 bis 15 Jahre bei uns. Die Förster geben immer schnell einen Baum auf, der an sich sogar als klimaresilient gilt, als ökologisch sehr stabil. Als Naturschützer gebe ich den Baum noch nicht auf. Vor allem die Naturverjüngung macht ja Mut! Überall dort, wo die Esche stirbt, verjüngt sie sich am Boden. Und was passiert mit den jungen Bäumen? Da hilft genetische Vielfalt. Denn Esche ist nicht gleich Esche, die können das dann noch ein bisschen besser ab, dafür braucht man auch innerhalb der Art genetische Vielfalt.“
Wälder umbauen mit Exoten? Bloß nicht!
„Ein instabiles System aufgrund mangelnder Artenvielfalt“, so nennt Dirk Tornede es. „Was meinen jetzt manche Forstwirte tun zu müssen? Sie wollen auf andere Baumarten setzen, die mit dem Klimawandel besser zurechtkommen. Das sind nicht heimische Baumarten. Die Esskastanie oder die Türkische Hasel gehen vielleicht noch, aber viele setzen auf Küstentanne, Douglasie, Roteiche und Atlaszeder. Alles Baumarten, die hier nicht heimisch sind. Auf diese Arten ist unsere heimische Tierwelt nicht angepasst“, warnt der Experte. „Wenn wir mal zählen, wie viele heimische Tierarten an einer heimischen Stieleiche vorkommen können, dann kommt man auf über tausend verschiedene.“ Bei der amerikanischen Roteiche sieht das anders aus. Die heimischen Insekten sind nicht daran angepasst. Nur die Generalisten, die mit allem zurechtkommen, würde man hier finden. „Insgesamt betrachtet fänden wir an den invasiven Baumarten lediglich eine Handvoll Arten“, so Dirk.
„Wenn wir jetzt noch die Wälder großflächig mit Exoten umbauen, zerstören wir auch noch große Flächen für die heimische Insektenwelt – und wir haben bereits einen dramatischen Rückgang an Insekten. Wir wissen nicht, was noch passieren kann, wenn wir uns jetzt einen Schädling miteinschleppen, der zum Beispiel auf die amerikanische Roteiche fixiert ist und hier keinen Gegenspieler hat. Der kann sich dann massenhaft ausbreiten und wird nicht von anderen Arten bekämpft.“ Das sei erneut auf Risiko gespielt, laut Dirk Tornede.
Weiter geht es durch die nördliche Egge mit ihren noch gut bestückten Buchenwäldern. „Hier sehen wir ein Wildnisgebiet, wo nicht mehr eingegriffen wird, wo man die toten Fichten, die als kleine Inseln noch da sind, einfach absterben lässt“, so Dirk. Hier entsteht eine Lücke, wo dann eine neue Baumart wie zum Beispiel Ahorn, Esche, Eberesche, Hainbuche hochkommen kann. Ein Wanderer sagt: Vermutlich ist es mit der Esche ähnlich wie mit der Buche: Es bilden sich Resistenzen. Wir sollten die Chance nutzen und mit der heimischen Baumart weiterarbeiten.
„Stärker die Natur machen lassen“, rät Niemeyer-Lüllwitz vom BUND: „Schaut euch mal Aufforstungsflächen an, wo die Buche oder andere Baumarten aufgeforstet wurden. Wer sich diese Buchenbestände anschaut, die 20 bis 40 Jahre alt sind, eine Buchenplantage… Solche Bestände sind angreifbar. Wenn ich aber die Natur stärker machen lasse oder maximal gruppenweise pflanze, in Mischbeständen, dann bringe ich einen stabileren Wald an den Start.“ Die Forstwirtschaft gehe leider überwiegend den vermeintlich ökonomischen Weg.
Pflanzung als Fehler – besser mit Saatgut arbeiten!
Das Problem beginnt vielleicht schon beim Thema Pflanzung, meint Dirk Tornede. „Warum wird eigentlich gepflanzt? Man könnte doch mit Saatgut arbeiten. Ein Keimling, der vor Ort und Stelle keimt, bildet eine tiefere Pfahlwurzel und ist dadurch besser mit Wasser versorgt. Er ist deutlich sturmresistenter, weil er besser im Boden verankert ist.“ Eine kleine Pflanze, die in der Baumschule großgezogen wurde, wird also wieder ausgebuddelt, die Pfahlwurzel wird gekappt und dann wird die Pflanze in den auch noch trockenen Wald gepflanzt. Auf Kalamitätsflächen, wo nichts mehr steht, wo die Sonneneinstrahlung extrem ist. Ein Großteil der dort gepflanzten Bäume vertrocknet. Hinzu kommt eine schlechtere Wasserversorgung: „Wenn der Boden mit schweren Geräten befahren wurde, ist er möglicherweise verdichtet. Dann kann er weniger Wasser aufnehmen und speichern. Ein intakter Waldboden kann bei Starkregen viel besser Wasser aufnehmen und schützt uns besser vor Hochwasser-Ereignissen. Ein Waldboden, den ich mit Harvestern verdichtet habe, kann das nicht mehr. Das sind alles Aspekte, die wir uns vor Augen führen müssen in der Diskussion um Hochwasserschutz und Klimawandel“, schließt Dirk.
Seltene Arten leben in der Egge
In der nördlichen Egge brütet der selten gewordene Schwarzstorch, erzählt uns Dirk. Wildkatzen haben sich hier angesiedelt und der Uhu nutzt die Steinbrüche als seinen bevorzugten Lebensraum. „Auch haben wir hier viele Pilze und gerade die sind auf die alten Bäume angewiesen.“ Außerdem ist das Gebiet sehr wertvoll für Fledermäuse, weil es im Kalkgestein viele natürliche Höhlen gibt, wo sie überwintern können. Und eine kleine Sensation weiß Dirk Tornede über das Eggegebirge noch zu berichten: „Der seltene Fledermaushöhlenkäfer (Choleva septentrionis sokolowskii) lebt hier. Er ernährt sich von toten Fledermäusen und deren Kot; ihn gibt es weltweit nur hier in einer Höhle“, betont er. Er ist seit der Eiszeit in der kühlen Höhle gefangen und kann sich nicht ausbreiten, weil es außerhalb der Höhle zu warm für ihn ist.
Aber auch die Fledermäuse haben ein Problem: Sie ernähren sich von Insekten, die nicht mehr in Masse vorhanden sind. Die Nahrung der Fluginsekten hat sich im Laufe der vergangenen 27 Jahre um ¾ reduziert. Das stellten Wissenschaftler fest, die in Naturschutzgebieten stets mit der gleichen Methode fliegende Insekten in die Falle lockten, die Arten bestimmten und die Biomasse gewogen haben. Über diesen langen Zeitraum konnten sie feststellen, dass die Fledermäuse und insektenfressende Vögel nur noch ¼ an Nahrung zur Verfügung haben. Hauptgrund des Insektensterbens ist der Mangel an Futterpflanzen für die spezialisierten Arten.
Es gibt 16 Nationalparke in Deutschland. Wer schreit da so laut gegen einen weiteren?
„Wer am lautesten schreit, hat nicht immer recht und die Bevölkerung hinter sich“, weiß Dirk Tornede. „Es gibt eine propagierte Mehrheit, wo behauptet wird, die Mehrheit der Bevölkerung wolle den Nationalpark nicht. Das ist erst einmal nur eine Behauptung. Es gibt eine gefühlte Mehrheit.“
Mehrere Umfragen hat es über die Jahre bereits gegeben. Stets waren rund ¾ der Stimmen für einen Nationalpark in der Region. „Das ist jedoch die schweigende Mehrheit“, erwähnt Dirk. Diese Stimmen höre man nicht. Die Frage ist: „Wie laut müssen wir jetzt werden, damit der Nationalpark entstehen kann? Wir müssen die Politiker davon überzeugen, dass die Bevölkerung sich mehrheitlich für einen Nationalpark ausspricht.“
Laut Dirk Tornede müsse Naturschutz beides machen: Die Integration von Naturschutzmaßnahmen in genutzten Bereichen und die Segregation, das sind Gebiete ohne menschlichen Einfluss oder möglichst geringen Einfluss, wo die Natur Natur sein darf – beides sei notwendig. „Wir müssen sowohl Wälder nachhaltiger bewirtschaften wie auch Wälder aus der Nutzung nehmen und die Natur sich selbst überlassen und schauen, was dann entsteht“, ist sich der NABU-Experte sicher.
„Die Biodiversitätskrise ist neben der Klimakrise das größte Problem, das gelöst werden muss, damit die Menschheit auf der Erde überleben kann. Ein zweiter Nationalpark in NRW ist deshalb notwendig, weil er einen kleinen aber wichtigen Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt bei uns leisten wird“, heißt es auf der Website des NABU Paderborn. – Wie kann man denn dagegen sein?