Berühmt und voller seltener Schönheiten: das Steinhorster Becken

Delbrück, Steinhorster Becken. Teutoburger-Wald-Tourismus. Foto: D. Ketz

Ein Beitrag von Martina Vogt

Delbrück/Ortsteil Steinhorst (Kreis Paderborn): Als „Edelstein“ bezeichnete der Biologe Dr. Gerhard Lakmann das Naturschutzgebiet Steinhorster Becken liebevoll und hieß uns, eine Gruppe von circa 30 Interessierten, im Frühling dieses Jahres am größten Biotop NRW’s (circa 85 Hektar) herzlich willkommen. Mit der Bezeichnung „Edelstein“ sollte er recht behalten. Ich bin zum ersten Mal hier und freue mich auf die vogelkundliche Wanderung rund um das berühmte Naturschutzgebiet, die vom NABU Gütersloh und der Biologischen Station Kreis Paderborn-Senne organisiert wurde.

Luftaufnahme Steinhorster Becken im Jahr 2014.

„Es ist wahrscheinlich der größte Lebensraum für Wat- und Wasservögel in Nordrhein-Westfalen, der rein von Menschenhand geplant und auf einer intensiv genutzten Agrarlandschaft umgesetzt worden ist“, berichtet Lakmann. Natürlich gibt es größere Sekundärlebensräume, zum Beispiel Rieselfelder, Steinbrüche oder Abgrabungen. Bei denen fand jedoch vorher immer eine Nutzung statt; die Folgenutzung war der Naturschutz. „Hier im Bereich des Steinhorster Beckens gab es vorher keine andere Nutzung außer der Agrarwirtschaft, wie sie hier im Kreis Paderborn üblich ist“, schildert Lakmann. Seit 1993 ist das Steinhorster Becken als Naturschutzgebiet ausgewiesen und seit der Jahrtausendwende Natura 2000-Gebiet als Teil des EU-Vogelschutzgebietes Rietberger Emsniederung mit Steinhorster Becken.

Wie alles anfing …

„Begonnen hat das ganze mit einer Katastrophe“, fährt Lakmann fort. 1965 gab es im Kreis Paderborn ein Jahrhunderthochwasser. Damit sich so etwas nicht wiederholt, plante man ein Netz von Hochwasser-Rückhaltebecken an den verschiedenen Fließgewässern des Kreises Paderborn und darüber hinaus zu bauen. „Dieses Hochwasser-Rückhaltebecken an der Ems dient weniger dem Schutz der Paderborner, sondern vielmehr den Nachbarn vom Kreis Gütersloh“, berichtet der Biologe. Denn in Rietberg und Rheda-Wiedenbrück gab es durchaus schon mal Hochwässer, bei dem beide Altstädte überflutet waren. Im Jahr 1972 wurde das Hochwasser-Rückhaltebecken an der oberen Ems bei Delbrück-Steinhorst fertiggestellt. Hier können im Ernstfall 1,25 Millionen Kubikmeter Emswasser eingestaut werden.

Steinhorster Becken. Foto: M. Vogt

Zunächst wurde ein regulierbares Wehr in die Ems gebaut und beidseitig der Ems gegen die Fließrichtung Hochwasserdeiche errichtet. Nach Fertigstellung wurde getestet, ob es funktioniert, ob die Deiche dicht sind. In einem Probestau wurden die damals noch privaten Flächen im Rückhaltebecken überflutet. „Zu dem Zeitpunkt war das alles Agrarlandschaft. Für eine kurze Zeit hatte man hier eine Seenlandschaft aus Flachwasserseen und spontan kamen zahlreiche Wasservögel an diesen Ort, zum Beispiel Enten, Gänse, Schwäne, Reiher und Schnepfenvögel“, berichtet Lakmann weiter. Genau zur Zugzeit der nordischen Wat- und Wasservögel, die in Skandinavien oder Osteuropa brüten und dann im Herbst an die Atlantikküste, ans Mittelmeer oder nach Afrika ziehen, wo sie den Winter verbringen. Im März/April kommen sie zurück in die Brutgebiete. Sie fliegen weite Strecken, einige gar tausende Kilometer. „Ohne Pause schaffen sie dieses Pensum nicht. Sie brauchen in regelmäßigen Abständen Rastgebiete, in denen sie ruhen und Nahrung aufnehmen können. Geeignete Rastgebiete auf dem Zugweg sind essenziell für die nordischen Zugvogelarten.“ Das war der Moment, als Ornithologen und Vogelschützern klar wurde: Hier sollte ein Rast-Biotop geschaffen werden. Mithilfe der Flurbereinigung konnten die überwiegend privaten Flächen getauscht werden. „Auf diese Weise hat man 82 Hektar landeseigene Flächen hier in den Retentionsraum des Hochwasser-Rückhaltebeckens hinein getauscht. Pionierarbeit war das. Ich glaube, in heutiger Zeit wäre das so ohne weiteres nicht mehr umsetzbar“, fügt Lakmann hinzu.

Die Idee eines Biotops – Lebensräume aus zweiter Hand

Solche Modelle, Lebensräume aus zweiter Hand zu gestalten, gab es zuvor bereits in Großbritannien. Aufgelistet wurde dabei, welche Vogelarten man haben wollte. Für sie mussten Habitate, also Speziallebensräume, geschaffen werden, damit sie sich hier wohlfühlen, ansiedeln, brüten oder zumindest hier rasten können. Dann wurde geplant: mehrere Flachwasserseen mit einzelnen Tiefenzonen, Röhrichte und zwei Feuchtwiesen. Einzelne Kiesbänke wurden in das Gebiet hineingeschüttet – denn es gibt Vögel, die auf nacktem Kies brüten. Einzelne Gehölze, die bereits vorhanden waren, wurden nicht gerodet, sondern in das Konzept eingebunden. Die Bauzeit betrug vier Jahre (von 1986 – 1990). In dieser Zeit wurden 650.000 Kubikmeter Boden bewegt. „Das war damals schon ´ne ziemlich große Nummer für das Land NRW. Die gesamten Kosten dafür lagen bei 7,2 Millionen DM“, laut Gerhard Lakmann. Man wollte etwas Einmaliges schaffen. Und das ist gelungen. Voraussetzung war: „Der Hochwasserschutz durfte nicht beschnitten werden.“ Auch heute noch hat der Hochwasserschutz hier oberste Priorität. Der Name Steinhorster Becken ist eine Abkürzung für Hochwasser-Rückhaltebecken an der oberen Ems bei Delbrück-Steinhorst.

Dass die Ems ein reiner Sandfluss ist, scheint nicht nur mir, auch einigen in unserer Gruppe neu zu sein, wenn ich ihre Blicke richtig deute. „Die Ems entspringt in der Senne und sie ist der einzige Sandfluss Deutschlands – von der Quelle bis zur Mündung“, hören wir den Fachmann sagen. „Die Ems schleppt den Sand aus der Senne – natürlich über die Jahrtausende – bis zur Nordsee. Die ganze Ems-Aue besteht aus Sand, genau wie das Steinhorster Becken. Alles, was hier an Boden herausgeholt wurde, um diese Teichwannen zu schaffen, war Sand. Hier, wo die Ems ins Steinhorster Becken hineinfließt, ist sie von der Quelle her gemessen gerade 13 km lang. Durch das Gebiet fließt die Ems circa 350 km weiter Richtung Nordsee“, schließt Lakmann.

Der naturschützerische Zeitgeist der 1970er/80er Jahre … sie waren ihrer Zeit voraus!

„Ein interessanter Gedanke der Planer von damals war, das gesamte Gebiet mit einem circa 4,5 km langen Ringgraben zu umgeben. Dass die Naturschützer von damals ihrer Zeit voraus waren, bestätigt besonders diese Maßnahme: Das gesamte Naturschutzgebiet ist für die Öffentlichkeit abgesperrt. Kein Wanderweg führt durch das Gebiet – kein einziger. Bewusst nicht.“ Das Gebiet darf nur für notwendige Pflegearbeiten und wissenschaftliche Untersuchungen betreten werden. Im Gebiet sind auch Jagd und Fischerei verboten. Warum? Man will Störungen im Gebiet soweit wie möglich vermeiden. Der vielgestaltige, breite Ringgraben hält nicht nur unbefugte Besucher:innen draußen, er ist auch ein wichtiger Lebensraum, denn hier brüten Zwerg- und Haubentaucher, Teich- und Blässhühner und verschiedene Enten und Gänse.

Wir sind am Hochwasser- oder Überlaufwehr gestartet. Das gesamte Gebiet ist von einem Rundwanderweg umgeben. Er verläuft rund 2,5 Kilometer auf dem Hochwasserdeich, sowohl westlich als auch östlich der Ems. Das hat einen großen Vorteil: „Von der Deichkrone hat man eine erhöhte Beobachtungsposition und kann von außen in das Gebiet hineinschauen und die Vögel mit einem Fernglas in allen Bereichen beobachten“, erläutert Lakmann. Aufgrund der Störungsvermeidung im Gebiet ist die Fluchtdistanz der Vögel im Laufe der Jahre deutlich zurückgegangen. Die Vögel lernen, dass die Menschen mit ihren angeleinten Hunden niemals näher kommen. Sie haben gelernt, dass die Menschen ihnen nichts tun. „Entsprechend kann man heute teilweise bis auf wenige Meter an einen Haubentaucher, Zwergtaucher, oder verschiedene Enten, Gänse und Reiher am Ringgraben herankommen, ohne dass die Vögel flüchten. Diese Nähe zu den Tieren ist in der freien Landschaft ansonsten nicht so gut möglich.“

Hat sich der Aufwand gelohnt?

Ein klares „Jein“ hören wir vom Biologen. Es haben sich verschiedene Vogelarten aus der einstigen Erwartungsliste angesiedelt, ja. Aber eben nicht alle. „Dafür sind andere Arten gekommen, die nicht erwartet worden waren: Wasserinsekten wie zum Beispiel Libellen-, Amphibien- und seltene Pflanzenarten“, fährt Lakmann fort. „Damals in den 1980ern meinten manche, man müsse der Natur ein bisschen auf die Sprünge helfen, man müsse Sachen anpflanzen, so ´n bisschen mit der Samentüte nachhelfen, und Tiere aussetzen, wo es möglich ist. Die Idee der Planer des Steinhorster Beckens damals aber war: Wir modellieren das Gebiet und überlassen es dann sich selbst. Wir werden nicht nachhelfen, keine Tiere und Pflanzen aussetzen. Was kommt, das kommt. Für die damalige Zeit war das fortschrittlich. Heute ist das normaler Konsens.“

Steinhorster Becken. Foto: M. Vogt

Und da kam so einiges Schönes: „Wir haben hier an die 50 Pflanzenarten der Roten Liste der gefährdeten Arten, die sich alle ohne menschliches Zutun angesiedelt haben. Vielleicht haben Wasservögel die Samen aus weit entfernten Gebieten eingeschleppt. Es gibt hier zum Beispiel zwei Arten Sonnentau, also fleischfressende Pflanzen, außerdem fünf verschiedene Arten wilder Orchideen, drei Arten Bärlappe, die Schwanenblume, sogar eine kleine Enzian-Art sowie verschiedene Seggen, Binsen und Gräser – die sind vielleicht weniger spektakulär, aber sehr selten, überregional bestandsgefährdet und damit schutzwürdig. Auch wurde hier eine Pflanzenart gefunden, die in ganz NRW als ausgestorben galt: das Heusenkraut, in alten Büchern auch „Wasserlöffelchen“ genannt, eine kleine Wasserpflanze, die zuletzt 1949 an einem Ort im Münsterland nachgewiesen worden war. Über 25 Jahre war das Steinhorster Becken der einzige Wuchsort der seltenen Pflanzenart in NRW, und das in einem großen Bestand“, erzählt Lakmann stolz.

Das Gebiet ist heute – selbst wenn kein einziger Vogel hier vorkommen würde – absolut naturschutzwürdig durch die Tier- und Pflanzenarten, die sich von allein hier angesiedelt haben.“ Gerhard Lakmann

Zu dem, was sich nicht so gut entwickelt hat … die Sache mit den Graugänsen

Nachdem die Ems im Herbst 1990 durch ein Überlaufwehr aufgestaut wurde, sah es vom Wasserstand her so aus wie heute. Ein Jahr später – im April/Mai – kam das erste Graugänse-Paar hier an. „Damals eine Sensation“, erzählt der Biologe. „Die erste Graugans, die hier 1991 gebrütet hatte, bekam Gössel. Zwei Jahre später waren es zwei Paare, auch die hatten Gössel, dann vier Paare … Ich erspare Ihnen weitere Zahlen“, lacht Gerhard Lakmann und wir lachen mit. Im Jahr 2008 wurden dann 162 Paare Graugänse gezählt, auch einige Kanadagänse waren dabei, und Nilgänse kamen hinzu. Und es wurde zu einem Problem. „Nicht, weil die Gänse hier im Gebiet so viel zerstören. Sie fressen ja nur Grünzeug, grasen gern. Sie fliegen im Frühjahr regelmäßig aus dem Schutzgebiet heraus zu den benachbarten Ackerflächen, wo gerade das Korn keimt. Die Fraßschäden, die ein großer Gänseschwarm auf einem Getreideacker anrichten kann, können schon erheblich sein. Entsprechend waren die Landwirte verständlicherweise verärgert“, schildert Lakmann die Situation.

Steinhorster Becken. Foto: M. Vogt

Der Naturschutz kümmert sich um seltene Arten. Graugänse zählen definitiv nicht mehr dazu, die benötigen keine besonderen Schutzmaßnahmen mehr. „Im Steinhorster Becken zu jagen, kam nicht infrage, weil Störungen im Naturschutzgebiet unbedingt vermieden werden sollen. Aber es war ein Thema“, fügt Lakmann hinzu. „Der Druck von Seiten der Landwirtschaft war jedoch so groß, dass sich die Kreisverwaltung Paderborn 2008 für eine Sondergenehmigung entschied, den Graugänsen ihre Eier wegzunehmen.“ Damals wurden aus 154 Graugans-Nestern über 800 Eier entnommen und an einen Tierarzt übergeben, der sie vernichtete. Ein Jahr nach der Ei-Entnahme war der Bestand der Graugänse deutlich verringert, auf noch rund 60 Brutpaare.

Steinhorster Becken. Foto: M. Vogt

„Ganz abgezogen sind sie aber nicht, sie haben sich offensichtlich auf die vielen Baggerseen der benachbarten Lippe-Niederung verteilt.“ In ihrer Zahl haben sich die Graugänse inzwischen wieder erholt, die Gesamtzahl der Graugans-Brutpaare ist aber seit Jahren etwa gleichgeblieben, jedoch hat die Kanadagans hinsichtlich der Anzahl der brütenden Paare die Graugans inzwischen überholt.

Killermaschine Waschbär

Für die bodenbrütenden Wat- und Wasservögel im Steinhorster Becken gibt es jedoch ein Problem und das ist die häufige Prädation der Nester. „Mit etwa 15 bis 20 Paaren hatten wir hier mal eine recht gute Kiebitz-Population. Auch hatten wir mal bis zu sieben brütende Entenarten: Stock-, Reiher-, Schnatter-, Löffel-, Krick-, Knäk- und Tafelente“, fügt Lakmann hinzu. Der Kiebitz-Brutbestand ist stark zurückgegangen und aktuell brüten hier nur noch drei Entenarten. Die Populationen sind stark zurückgegangen und der Bruterfolg ist gering. „Da die Nester überwiegend nachts geplündert werden, haben wir Wildkameras gearbeitet, um zu schauen, wer da nachts unterwegs ist. Und wir fanden heraus, dass es überwiegend Waschbären waren.“ Der Waschbär, ein Neubürger, der ursprünglich aus Amerika stammt, hat sich in unserer Landschaft stark vermehrt und ist in Schutzgebieten wie dem Steinhorster Becken inzwischen ein Riesenproblem. Waschbären plündern nämlich gerne die Nester von Bodenbrütern.

Steinhorster Becken. Foto: M. Vogt

Gänse sind aufgrund ihrer Größe noch in der Lage, einen einzelnen Waschbären am Nest abzuwehren, aber die pelzigen Tiere greifen auch zu mehreren an. „Wir haben eine Fotosequenz, die zeigt, wie eine Gans auf ihrem Nest sitzt und ein Waschbär aus dem Binsen-Röhricht näherkommt. Die Gans ging ein bisschen hoch und machte die Flügel breit. Dann kam ein zweiter Waschbär hinzu, die Gans machte sich noch größer und schnell folgte ein dritter Waschbär als Verstärkung.“ Als der dritte da war, hatte die Gans das Nest verlassen und die Waschbären plünderten das ganze Nest und rollten die Eier heraus. „Das ist bei den Gänsen nicht ganz so schlimm, da sie nicht selten sind, doch bei anderen Bodenbrütern stellen Waschbären eine ernste Gefährdung dar. Die klugen Tiere suchen gezielt die Nester der Bodenbrüter, klettern auf hohe Bäume, um an Nester in Baumkronen zu gelangen und sie plündern sogar Nistkästen. Auch Amphibien gehören zum Nahrungsspektrum der Waschbären. Der Einfluss der Waschbären auf heimische Lebensgemeinschaften ist größer als geahnt.“ wundert sich der Biologe.

Aktuell läuft in Nordrhein-Westfalen ein EU-kofinanziertes LIFE-Projekt mit dem Titel „Wiesenvögel NRW“. Durch das Projekt sollen die Lebensbedingungen für brütende und rastende Vögel des feuchten Grünlandes in NRW verbessert werden. Auch das Naturschutzgebiet Steinhorster Becken gehört zur Kulisse des LIFE-Projekts. Inzwischen wurden schon einige Maßnahmen umgesetzt, weitere sollen in nächster Zeit folgen. Ein Baustein des LIFE-Projekts „Wiesenvögel NRW“ ist auch das Prädatoren-Management. Im Naturschutzgebiet darf zwar nicht gejagt werden, um Störungen zu vermeiden. Aber zukünftig sollen am Rand des Gebiets gezielt Waschbär-Fallen aufgestellt werden, die zusammen mit örtlichen Jägern betreut werden. „Ausrotten können wir die Waschbären nicht mehr. Aber wir wollen ihn, soweit es geht, ‚kurzhalten‘, wie Jäger es ausdrücken. In einem so wertvollen Gebiet wie dem Steinhorster Becken leben viele seltene Tierarten, für die der Waschbär eine ernste Gefahr darstellt. Diese Lebensgemeinschaft wollen wir nicht durch invasive Arten gefährden“, schließt Gerhard Lakmann seinen Vortrag und bedankt sich für unser Interesse. Auf ein baldiges Wiedersehen am Steinhorster Becken.